Durch ihren Siedlungsraum und ihre Religion isoliert
und durch die Taliban unterdrückt, könnten die Hazara Afghanistans größte
Hoffnung sein.
Übersetzt aus dem Englischen von Ahmad
Scherzad
Original: Phil Zabriskie, "Afghanistan's Outsiders" nationalgeographic.com
Februar 2008
2001: Die Zerstörung der Buddha-Statuen in Bamian |
Im Herzen
Afghanistans ist ein leerer Platz, eine auffallende Lücke, wo einst die größere
der riesigen Buddha Statuen stand. Im März 2001 feuerten die Taliban tagelang
Raketen auf die Statuen ab, dann legten und detonierten sie Bomben. Die Buddhas
stehen schon seit etwa 1500 Jahren in Bamian. Seidenstraßenhändler und Missionäre
verschiedener Glaubensrichtungen kamen und gingen. Gesandte von Imperien
passierten – Mongolen, Safawiden, Mogule, Briten, Sowjets – oft hinterließen sie
blutige Fußspuren. Ein Land namens Afghanistan nahm Gestalt an. Regierungen
entstanden und brachen zusammen oder wurden gestürzt. Die Statuen überdauerten
all dies. Aber die Taliban sahen die Statuen schlicht als nicht-islamische
Götterbilder an, als in Stein gemeißelte Ketzerei. Sie störte es nicht als
brutal angesehen zu werden. Sie fürchteten keine noch stärkere Isolation. Die
Zerstörung der Statuen war ein frommes Brandzeichen ihres Glaubens, über
Geschichte und Kultur hinweg.
Ein Hazara Schulmädchen |
Es war zudem eine
Machtdemonstration gegenüber den Menschen, die unter dem starren Blick der
Buddhas leben: den Hazara, Bewohner einer abgeschiedenen Region in Afghanistans
zentralen Hochgebieten, genannt Hazarajat - ihrer Hochburg, auch wenn nicht von jedem so gewollt.
Schätzungsweise bis zu ein Fünftel der Population Afghanistans ist aus Hazara
zusammengesetzt, die lange Zeit zu Außenseitern gebrandmarkt worden sind. Die
allermeisten sind schiitische Muslime in einem überwältigend
sunnitisch-muslimischen Land. Sie sind bekannt für ihren Fleiß, dennoch üben
sie die am wenigsten gefragten Jobs aus. Ihre asiatischen Gesichtszüge -
schmale Augen, flache Nasen und breite Backen - haben sie in eine de facto
untere Gesellschaftsklasse isoliert, was ihnen ihre vermeintliche
Minderwertigkeit so stark vor Augen führt, dass manche sogar glauben sie wären
wirklich minderwertig.
Die damals
herrschenden Taliban - meist fundamentalistische Sunniten vom Volk der
Paschtunen - sahen Hazara als Ungläubige, als Tiere und sonstiges an. Sie
schauten nicht hin, wie Afghanen hinschauen sollten
und übten ihre Religion
nicht so aus, wie es Muslime ausüben sollten. Ein Taliban, über Afghanistans
nicht-paschtunische Völkergruppen redend, sagt: „Tajiken nach Tajikistan,
Uzbeken nach Uzbekistan und Hazara nach Goristan,“ zum Friedhof. Und
tatsächlich, als die Buddhas zerstört worden waren, belagerten Taliban-Kämpfer
Hazarajat, brennten Dörfer nieder und machten die Region unbewohnbar. Als der
Herbst begann, sorgten sich die Menschen vom Hazarajat, ob sie den Winter
überleben würden. Dann kam der 11. September, eine Tragödie andernorts, welche
scheinbar die Rettung für die Hazara brachte.
Die große Buddha-Statue vor der Zerstörung |
Bestseller-Roman "Drachenläufer" von Khaled Hosseini |
Sechs Jahre nach dem
Fall des Taliban Regimes verbleiben Narben in den Hochgebieten der Heimat der
Hazara, aber es herrscht ein Gefühl von Potenzial, welches vor einem Jahrzehnt
noch undenkbar gewesen wäre. Heutzutage ist dieses Gebiet eines der sichersten
in ganz Afghanistan, größtenteils frei von den Mohnfeldern, welche in anderen
Regionen überwiegen. Eine neue politische Ordnung herrscht in Kabul, dem Sitz
von Präsident Hamid Karzais Zentralregierung. Hazara haben nun Zugang zu
Universitäten, Beamtenberufen und anderen Möglichkeiten des Aufstiegs, die
ihnen lange verwehrt geblieben waren. Einer der Vize-Präsidenten des Landes ist
Hazara, einer, der die meisten Wählerstimmen im Parlament erhält, und eine
Hazara Frau ist die erste und einzige Gouverneurin im Land. Der amerikanische
Bestseller-Roman Drachenläufer - welcher auch verfilmt wurde - stellte
einen fiktionalen Hazara Charakter dar und ein echter Hazara gewann die erste
Staffel von Afghan Star, dem afghanischen Pendant zu Deutschland
sucht den Superstar.
Rohullah Nikpa: Erste Olympische Medaille für Afghanistan |
Während das Land
mühsam versucht sich nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs wieder aufzubauen,
glauben viele, dass Hazarajat als Vorbild dienen könne, was möglich sei, nicht
nur für Hazara, sondern für alle Afghanen. Aber dieser Optimismus ist gemäßigt
durch frühere Erinnerungen und gegenwärtige Frustrationen - über zerstörte
Straßen, den wiederauflebenden Taliban und über stärker werdende
Strömungen des sunnitischen Extremismus.
Ein Projekt wurde nun
ins Laufen gebracht, bei dem tausende Steinfragmente gesammelt werden, um die
Buddha Statuen zu rekonstruieren. Etwas ähnliches spielt sich unter den Hazara ab,
wenn sie versuchen ihre zerbrochene Vergangenheit zu reparieren, mit einem
beträchtlichen Unterschied: Es gibt Bilder von den zerstörten Buddhas. Die Hazara
haben keinen derartigen Bauplan, kein Gefühl dafür, wie eine Zukunft, frei von
Verfolgung, aussehen sollte.
Musa Shafaq will in
jener Zukunft leben. Er ist 28, hat schulterlanges schwarzes Haar und typische
Hazara Gesichtszüge, nicht unähnlich denen der Buddhas. Er steht am Tor der Kabul
University in einem roten Pullover
, schwarzen Jeans und mit einer getönten
rezeptpflichtigen Brille. Der Unterricht ist gerade beendet worden. In zwei
Monaten wird er seinen Hochschulabschluss machen, eine bemerkenswerte
Errungenschaft für jeden Afghanen, die so instabil sind, wie das Land in dem
sie leben.
Eine Universität in Kabul |
Weil er Hazara ist,
signalisiert sein Erfolg eine neue Ära. Shafaqs Chancen stehen gut seinen
Abschluss als der Jahrgangsbeste zu machen, was ihm den Beruf, den er am
liebsten ausüben würde, garantieren sollte, eine Lehramtsstelle an der Kabul
University.
„Die Hazara bringen
die enthusiastischste, gebildetste und zukunftsorientierteste Jugend hervor,
welche die Chancen, die sich durch die neue Situation ergeben, nutzen.“ sagt
Michael Semple, ein rotbärtiger Ire, der Stellvertreter des EU-Botschafters für
Afghanistan ist. Shafaq half bei der Gründung des Center of Dialouge, einer
Hazara Studentenorganisation mit 150 Mitgliedern. Die Gruppe veröffentlicht ihr
eigenes Magazin, veranstaltet Events um für „Humanismus und Pluralismus“ zu
werben und arbeitet mit Menschenrechtsorganisationen zusammen, um Wahlen zu
beaufsichtigen. Semple sieht die Gruppe als Teil eines aufkommenden,
politischen
Bewusstseins innerhalb der Hazara Jugend.
„Wir haben ein
Fenster zu Chancen,“ sagt Shafaq, „aber wir wissen nicht, wie lange es offen
bleiben wird.“ Dieser Sohn des Hazarajat ist der sprichwörtliche Bauernbub, der
in die große Stadt gekommen und dort erfolgreich geworden ist. Shafaqs Vater
bewirtschaftete einen Bauernhof in ihrem Dorf, Haft Gody, in Waras, einem
Bezirk im Süden von Bamian und führte ein Restaurant im Bezirkszentrum. Kinder
in Waras heiraten traditionell früh, bleiben in der Nähe des Vaterhauses und
kümmern sich um die Kartoffelfelder. Aber Shafaq wollte etwas mehr. Wenn er
seinem Vater gerade nicht aushelfen musste, las er gefräßig - Romane über
Geschichte und Philosophie oder Übersetzungen von Abraham Lincoln, John Locke
und Albert Camus.
Gemälde von Dschingis Khan |
Mit der Zeit hörte
sich Shafaq Geschichten an, darüber woher seine Leute stammen, warum sie anders
aussehen als Paschtunen und Tajiken. Er und seine Hazara Mitbrüder sind, wie
eine Geschichte besagt, die Nachfahren von Dschingis Khans mongolischen
Soldaten, welche im 13. Jahrhundert in Zentralasien einmarschiert sind, eine
Besatzung gebildet haben und die Einwohnerschaft eroberten - einen
mannigfaltigen Mix aus Menschen, die nicht selten entlang der Seidenstraße
anzutreffen sind. Als die Einheimischen aufständisch wurden und Dschingis' Sohn
töteten, rächte sich der Eroberer, indem er Bamian dem Erdboden gleichmachte
und die meisten seiner Bewohner auslöschte. Die, die aufgrund von Ehen mit den
Mongolen überlebt hatten, wurden die Hazara - eine genetische Vermischung
ist aus den vielfältigen Gesichtszügen
unter den Menschen dieser Region heute noch ersichtlich.
Junges Hazara Mädchen |
In jüngerer Zeit nahm
eine Minderheit von Hazara die Verbindung zu Dschingis Khan mit einem Gefühl
von Stolz an, doch viel öfter wird die Außenseiter-Abstammung gegen sie
verwendet. Für viele beginnt die modernere Erzählung in den 1890er Jahren als
König Abdur Rahman, ein Paschtune, blutige Anti-Hazara Hetzjagden in und um
Hazarajat startete. Aufgeheizt durch Chauvinismus und bewaffnet mit Fatwas von
sunnitischen Mullahs, welche die Hazara zu Ungläubigen erklärten, töteten
Rahmans Truppen viele Tausende und versklavten viele Überlebende. Massenweise Hazara
wurden von ihren Tieflandfarmen zu den zentralen Hochländern vertrieben. Später
benutzten Herrscher Gewalt, Gesetze und Manipulation, um die Hazara in diese
Hochländer auszugrenzen und sie beschränkt zu halten, sowohl physisch als auch
psychisch.
Bücher über die
düstere Vergangenheit der Hazara wurden, als eine Art Kulturerbe, von
Generation zu Generation weitergegeben. „Für die Hazara war es peinlich sich zu
ihrer Volkszugehörigkeit zu bekennen.“ erinnert sich Habiba Sarobi, die
Gouverneurin von Bamian. Der frühere Hazara Kommandant, Mohammed Mohaqeq,
welcher die meisten Stimmen in den Parlamentswahlen 2005 erhielt, sagt: „Wir
waren wie Esel, nur dazu da Waren von einem Ort zu einem anderen zu
transportieren.“
Taliban-Kämpfer |
Shafaq war in der
zehnten Klasse als die Taliban 1996 an die Macht kamen und einer Bevölkerung,
die müde war von den Konflikten zwischen den Warlords der verschiedenen Völker,
Sicherheit versprachen, darunter auch dem Volk der Hazara. Ein Jahr zuvor haben
die Taliban auf brutale Weise Abdul Ali Mazari ermordet - einen charismatischen
Anführer, welcher von vielen der „Vater der Hazara“ genannt wird. Dieser hat
dabei geholfen, die „Partei der Einigkeit“, auch genannt Hezb-i-Wahdat
zu gründen, mit dem Ziel interne Streitigkeiten zwischen den Hazara zu beenden.
Nach seinem Tod zersplitterte die Partei und Taliban Truppen breiteten sich
über Hazarajat aus.
„Ich half meinem
Vater auf den Feldern als meine Schwester zu uns gerannt kam und sagte, 'Die
Taliban sind überall!'“ sagt Shafaq. Dorfbewohner formten weiße Flaggen aus den Säcken der Düngemittel. Einheimische
Anführer schlossen Abkommen mit den Taliban, um diese zu besänftigen. Shafaq
versteckte seine Bücher. Es war ein hässlicher Krieg. In der Provinz Bamian
hofften Wahdat Krieger, die Taliban davon abhalten zu können, die
restlichen, noch uneroberten Gebiete in ihre Gewalt zu nehmen. Schulen wurden
geschlossen. Ernten wurden nicht mehr eingeholt. Familien flohen nach Iran oder
in die Berge. Die Taliban verhängten eine Blockade zu Hazarajat und trieben die
Nahrungsknappheit in einer Region, die ohnehin unter der Dürre litt, weiter an.
Der Bazar von Bamian wurde niedergebrannt und zahlreiche Familien suchten
Unterschlupf in den Höhlen nahe den Buddhas.
Demonstration gegen den Genozid der Hazara |
Anfang 2001, an den
kältesten Tagen eines grausamen Winters im Hazarajat, erfuhr der Bezirk
Yakawlang das Grauen. Am 8. Januar verhafteten die Taliban junge Hazara Männer
in Nayak, dem Bezirkszentrum. „Die Leute dachten, dass diese Menschen vor
Gericht gebracht werden würden,“ erinnert sich Sayed Jawhar Amal, ein Lehrer
aus dem benachbarten Dorf Kata Khona, „aber um 8 Uhr früh wurden sie hingerichtet. Jeder einzelne.“ Die Männer
wurden in einer Reihe aufgestellt und vor den Augen der Öffentlichkeit
erschossen. Wenn die Stammesältesten aus Kata Khona nach jungen Männern aus
ihrer Gemeinschaft fragten, wurden diese auch getötet. Insgesamt, so Human
Rights Watch, wurden mehr als 170 Menschen in vier Tagen hingerichtet.
„Weil wir Shia waren. Das war der einzige Grund!“ sagt Mohsin Moisafid, 55, aus
Kata Khona, der an jenem Tag zwei Brüder verlor.
Hazara Mädchen bei der Beerdigung ihrer Angehörigen |
Einheimischen
Stammesführern wurde erlaubt die Toten zu beerdigen. Die eingefrorenen Leichen
mussten mit kochendem Wasser aufgetaut werden. Zwei Wochen später begannen die
Kämpfe erneut. Laut Human Rights Watch haben Taliban Truppen mehr als
4000 Häuser, Läden und öffentliche Gebäude niedergebrannt. Sie zerstörten ganze
Städte im Westen von Bamian. Dorfbewohner flohen in die Berge und als sie
hinunter schauten, sahen sie ihre Häuser brennen.
Viele fanden
Unterschlupf in Waras, wo auch Shafaqs Familie - Mutter, Vater und seine sieben
Geschwister - damals mühsam nach Essbarem suchten. Shafaq hörte auf zu
studieren und begann zu lehren - Die Schulen im Hazarajat sind heutzutage voll
von Lehrern, die nicht einmal die Grundschule zu Ende besucht haben. Aber seine
Träume verblassten. „Ich machte mir keine großen Hoffnungen, weil ich dachte,
dass die Taliban für weitere 10 oder 20 Jahre bleiben würden.“ sagt er. Die
Angriffe der Taliban waren auf ihrem Höhepunkt als Flugzeuge in das World Trade
Center und in das Pentagon stürzten. Es war ein deus ex machina, sagt
Michael Semple, der das Yakawlang Massaker 2001 auf große eigene Gefahr
dokumentiert hatte. Nachdem U.S. Truppen die Taliban entmachtet hatten, stiegen
die Erwartungen. Besonders die Hazara hofften auf eine bevorstehende Erlösung.
„Ich arbeitete hier zu Zeiten, als Hazara das Gefühl hatten sie würden
praktisch in einem System der Apartheid leben,“ sagt Semple “mittlerweile hat
sich Vieles gebessert.“
Traditionelle Hazara Trachten |
Aber es fällt Hazara,
wie Shafaq schwer diesem Moment zu trauen. „Ich würde gern einen Ort sehen, wo
die Träume von jungen Menschen erreichbar sind,“ sagt er, „wo es eine Kirche
und einen Hindu Tempel gibt, wo auch andere Religionen existieren können. Das
ist das Ziel des Pluralismus.“ Er träumt von der Lehramtsstelle an der Kabul
University und davon eines Tages zu heiraten. Sie ist die Tochter von
Familienfreunden, eine Sayid Schiitin, die eine Abstammungslinie bis hin zurück
zum Propheten Mohammed hat. Sayid Familien verheiraten ihre Töchter
traditionell nicht mit Hazara Männern. Aber in dieser neue Ära ist dies
vielleicht möglich.
Von oben betrachtet
ist Hazarajat eine Diashow aus atemberaubenden Landschaften: die lila gefärbten
Felsschluchten rund um Bamian, die tiefblauen Gewässer des
Band-e-Amir Sees,
Wolken durchbohrende Bergspitzen von Gebirgspässen nähe Waras. Am Boden ist es
eine andere Geschichte. Für die, die hier leben, ist es ein hartes Land mit
einer harten Geschichte, in dem sie ihr Leben führen.
Eim Hazarajat Winter,
wenn er erstmal begonnen hat, bleibt er sechs Monate lang. Der Schnee macht
Straßen unpassierbar, sogar mit Vierradantrieb und Gleitschutzketten, und
versperrt die hohen Gebirgspässe, welche die Bezirke voneinander trennen. Trotz
Versprechungen der Regierung und von internationalen Spendern, Jahre zuvor, die
Straßen von Kabul nach Bamian und von Bamian nach Yakawlang zu befestigen, sind
die meisten immer noch bessere Maultierpfade. Im Winter sterben viel mehr Mütter
aufgrund von Geburten, weil sie nicht rechtzeitig Hilfe bekommen können. Auch
zu günstigen Wetterbedingungen können die Bauern ihre Ernte nicht zu den
Märkten bringen. „Wir haben versucht Melonen und Pfirsiche nach Kabul zu
bringen, aber es war alles nur noch Saft als wir dort ankamen.“ sagt Chris
Eaton, Vorsitzender der Aga Khan Stiftung in Afghanistan.
Hazara Bauernfamilie bei der Landarbeit |
Mohammed Akbar ist
ein Hazara Bauer mit grau-blauen Augen, die zu seinem eng gewickelten Turban
passen, und einem elfenhaften Gesicht umrundet von einem weißen Bart. Er lebt
in Lorcha, einem kleinen Ort im Westen von Yakawlang. An einer Klippe über
einer schmalen Strömung haften Lehmhäuser in eng gepackten Gruppen aneinander.
Diese Häuser befinden sich zwischen denen, welche die Taliban 2001 niederbrannten.
Jeder Mann in Lorcha kann auf den Berg zeigen zu dem seine Familie geflohen war
und von anstrengenden Reisen durch dicke Schneeschichten erzählen, bei denen
sie alles mitschleppten, was sie tragen konnten. Heute wurden die meisten
beschädigten Häuser wiederaufgebaut. Die Dorfbewohner spendeten außerdem Geld
für eine neue Moschee. Das Geld ist knapp, aber der Dorfälteste hat die Bauern
überredet der Versuchung, Mohn anzubauen, zu widerstehen. „Es ist haram!“
sagt Akbar, verboten durch den Islam.
Als der Schnee,
letzten Frühling zu schmelzen begann, litten einige Gebiete stark unter
Überschwemmungen. Aber Akbar - nein, wirklich jeder aus Hazarajat - hoffte,
dass der Abfluss das Ende einer zermürbenden Dürre signalisieren würde, die den
Ertrag aus den Ernten begrenzte und viele Familien dazu zwang ihre Tiere in den
letzten Jahren zu verkaufen. An einem ruhigen und späten Frühlingstag
bewässerte Akbar ein kleines Weizenfeld etwas außerhalb des Dorfes. Das
umgebende Tal war ein Stückwerk einförmiger Felder voll von Kartoffeln, Heu und
noch unreifem Weizen.
Hazara Mädchen beim Zubereiten des Abendmahls |
Die nächste Straße
war am anderen Ende der Strömung. Eine zur Straße führende Fußbrücke wurde
weggespült, als die Strömung durch den Abfluss des schmelzenden Schnees stärker
wurde. Drei Baumstämme wurden quer über das Wasser gelegt und Eltern nahmen
ihre Kinder huckepack hinüber, um sie zur Schule zu bringen.
In diesem kleinen
Dorf und überall im Hazarajat ist Bildung eine Dringlichkeit. Auch wenn die
Schule in einem Zelt oder in einem Gebäude ohne Türen und Fenster ist, auch
wenn der Lehrer selbst nur wenige Jahre zur Schule ging, Eltern wollen, dass
ihre Kinder etwas lernen, viel mehr als anderswo im Land. Hussain Ali lebt in
einer Höhle in Bamian, wo seine Familie auf dünnen Matten schläft und die Wände
schwarz vom Ruß sind. Seine Kinder könnten zusätzlichen Verdienst bringen aber
er will, dass sie zur Schule gehen. „Ich
bin alt, meine Zeit ist vorbei,“ sagt er „aber meine Kinder sollen etwas
lernen.“
Hazara Schülerinnen und Schüler |
In den letzten Jahren
wurden im Hazarajat zahlreiche Schulen gebaut, hauptsächlich von
Hilfsorganisationen und von dem, in Bamian ansässigen, Wiederaufbauteam aus
Neuseeland. Eine Gruppe Jugendlicher aus der Bezirkshauptstadt Daykundi sagen,
dass die jungen Menschen hier nicht heiraten wollen, bevor sie die Schule
beendet haben. Ein Drittel der High School Schüler, welche die Berechtigung zur
Einschreibung in eine Universität erhalten, sind Hazara, und die Zahlen steigen
- auch bei den Mädchen. Hazarajat ist ein sehr konservativer Ort, aber es ist
weit entfernt vom Fundamentalismus. Die Frauen hier „gehen zur Schule, sie
haben ihre eigenen Ziele und sie haben ihre Freiheit.“ sagt Raihana Azad, ein
weibliches Mitglied des Bezirksrats in Daykundi.
Mit der Zeit wird
diese Saat vielleicht Früchte tragen, von denen die gesamte Gesellschaft kosten
kann, aber vorerst müssen sich Familien mit dringenderen Angelegenheiten
beschäftigen. Oft heißt das, dorthin zu gehen, wo es Arbeit gibt. In jedem Dorf
sieht man Frauen, die lange Röcke, Kittel und grüne, rote oder himmelblaue
Kopftücher tragen. Sie schaufeln den Schnee von ihren Dächern oder ernten
Felder ganz alleine ab, weil ihre Männer als Tagelöhner in Pakistan, Iran,
Herat oder Kabul arbeiten. Es ist hart für die, die gehen und hart für die, die
bleiben.
Aber manchmal heißt
„sich der Umwelt anpassen“, sich eine neue zu suchen.
Für viele ist dieser
neue Ort Kabul, wo mittlerweile ungefähr 40 Prozent der Einwohner Hazara sind.
In den Straßen der Wohngegenden im Westen der Stadt sieht man Hazara Kinder in
Uniform auf ihrem Weg zur Schule, Hazara Gemüsehändler wie sie ihre Karren
aufstellen und Hazara Ladenbesitzer und Schneider wie sie ihre Läden öffnen.
Hossein Yasa, der Redakteur der Tageszeitung Daily Outlook, hat
beobachtet, dass viele Fernsehstationen und Zeitungen im Besitz von Hazara sind
und dass eine schiitische Koranschule und eine Moschee in Bau sind. „Die
Mittelklasse der Hazara wächst sehr schnell!“ sagt Yasa.
Ghettos in Kabul |
Allerdings, von
diesen Dingen mal abgesehen, lebt eine große Hazara Unterschicht, bestehend aus
handwerklichen Arbeitern, in den westlichen Wohngegenden Kabuls -
Dascht-i-Barchi, Kart-e-She und Chindawul - die weder Zugang zu Strom noch zu
sauberem Wasser haben. „Wir reden hier von Ghettos.“ sagt Niamatullah Ibrahimi,
der mit der London School of Economics zusammenarbeitet.
Jeden Tag sind die
Hazara Karrenzieher auf der Hauptstraße von Dascht-i-Barchi und hoffen, dass
sie Arbeit finden. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, im Winter, Frühling, Sommer oder im Herbst, hoffen sie,
dass sie jemand anheuert, mit ihren Karren, Holz, Baumaterial, Weizensäcke,
Ölkanister, Glasscheiben, Fensterrahmen, oder Geschirr - egal was - von einem
Ort zu einem anderen zu transportieren.
Pahlawan, Baba und
Assadullah sind drei von den vielen Männern, die das tun, weil sie es müssen,
weil sie nur das können. Sie halten sich für unsichtbar, unbeachtet, aber in
vieler Hinsicht sind sie das Gesicht der Hazara in Kabul, die Berufe ausüben,
die kein anderer will. An einem guten Tag verdienen sie 200 oder 250 Afghani,
drei oder vier Euro. Aber sie wissen nie, wie viele gute Tage sie haben werden.
Pahlawan, „der Ringer“ ist der stärkste, mit seinen Mitte 30. Er arbeitet seit
seinem siebten Lebensjahr. „Jeden Tag sitzen wir hier auf unseren Karren, von
morgens bis abends.“ sagt er. Zulfiqar Azimi ist „Baba“, 67, mit einem Glasauge
und fehlenden Fingern an einer Hand. „Ich hatte noch nie einen Moment der
Bequemlichkeit in meinem Leben.“ sagt er. Assadullah ist der jüngste, ruhig,
gutaussehend in all dem Staub. Er ist erst vor kurzem aus dem Iran
zurückgekehrt. Er ist hager aber geht steif. Als er noch Mitte 20 war, sagt er,
war er ein professioneller Kampfsportler. „Jetzt,“ sagt er, „habe ich diesen
Karren. “
Tagelöhner in Kabul |
Der erste Job des
Tages kommt von einem Mann, der 20 Säcke Mörtel zu einer Baustelle gebracht
haben will. Pahlawan ist nicht da, also beladen Baba und Assadullah den Karren
mit den 77 Pfund schweren Säcken. Beide Männer packen den Karren und ziehen geschätzte 1500 Pfund,
während Autos und Busse hupen und Qualm spucken. Sieben Minuten und einige
Meter später biegen sie in die Gassen, der, aus Lehm gebauten, Wohnhäusern
Kabuls ab. Stark schnaufend und reichlich schwitzend erreichen sie die Baustelle.
Sie müssen die Säcke die letzten Meter zur
Baustelle tragen. Baba wirft einen Sack über seine Schulter und geht
gebückt und mit gesenktem Kopf und hält den Sack, aus dem weißes Pulver auf
seine Kleidung ausläuft, mit einer Hand. Nochmal zehn Minuten und sie sind
fertig. Baba und Assadullah bekommen 1.20 Dollar, die sie sich teilen.
„Sie sehen unsere
Lage, bei meinem Alter“ sagt Baba, während er seinen Kopf wegdreht, damit ich
sein gutes Auge sehe. Er holt eine Tabakdose raus und legt eine handvoll in
seinen Mund bevor er sich wieder aufmacht, um nach einem neuen Auftrag zu
suchen.
Manche Beobachter
glauben, dass die Diskriminierungen, mit denen die Hazara in Kabul konfrontiert
werden, ein Gefühl der Einigkeit und ein Verlangen nach Demokratie fördern.
„Ich denke, dass es in Kabul einen größeren Hazara Nationalismus gibt als im ländlichen
Hazarajat, weil die Menschen die Ungleichheit zwischen den Hazara und den
Nicht-Hazara dort tagtäglich erfahren müssen.“ sagt Ibrahimi. Die Vorsitzende
der afghanischen Menschenrechtskommission, Sima Samar ist einer Meinung: „Die Hazara
sind anpassungsfähiger an die Demokratie, weil sie das Leid mehr als jeder
andere spüren. Sie spüren die Diskriminierung. Sie wollen endlich Gleichheit
und soziale Gerechtigkeit.“
Abdul Ali Mazari: Der Vater der Hazara |
Würden die Buddha
Statuen letzten Mai noch stehen, würden sie auf einen jungen Mann hinunter
starren, der Bamians Hauptstraße passiert, eine holprige, unbefestigte Straße
mit Läden auf beiden Seiten, die Speiseöl, Medizin und Baumaterialien anbieten.
Eine große Plakattafel, mit einem Bild von Mazari, dem Märtyrer und Hazara
Anführer, steht am Hang.
Musa Shafaq ist
zurück in der Hazara Hochburg. Er hat den Job an der Kabul University,
den er so sehr wollte, nicht bekommen. „Wenn ich in Zukunft in Afghanistan
leben sollte, dann in Kabul.“ sagt er. Sein ausgezeichneter akademischer
Abschluss hätte das möglich machen müssen. „Er war einer unserer
intelligentesten Studenten. Er hätte eingestellt werden müssen.“ sagt Issa
Rezai, ein Berater im Ministerium für Höhere Bildung. Aber die Vorurteile
gegenüber Hazara sind immer noch stark an der Universität. Fundamentalistische
paschtunische Professoren haben immer noch eine Vorherrschaft, darunter einige
Hardcore-Fundamentalisten, die früher Anführer von Gruppen waren, welche
Gewalttaten gegen Hazara Bürger verübt haben sollen. Sayed Askar Mousavi, Autor
des Buches The Hazaras of Afghanistan, sagt, dass derartige
Diskriminierungen belegen, wie wenig sich der Fundamentalismus verändert hat.
In Bamian, sagt er, „gab es zwei Veränderungen. Es gab dort zwei Buddhas, und
nun sind da keine mehr.“
Shafaq hatte auch
andere schlechte Neuigkeiten: Er wird nicht seine Freundin aus Waras heiraten
können. „Ich liebe sie und sie liebte mich,“ sagt Shafaq “aber als ich meine
Mutter bat, sie zu besuchen und beim Vater um die Hand seiner Tochter
anzuhalten, lehnte er ab. Weil ich ein Hazara bin.“
Deswegen ist Shafaq
nun allein, zurück im Hazarajat und lehrt an der Bamian University, wo
alle anderen Dozenten auch Hazara sind. Wie ihre Studenten, sind sie ernst,
motiviert, intelligent - und ein bisschen ängstlich. Seit der Wiedereröffnung
2004 ist die Universität gewachsen. Hinter dem Eingang ist ein staubiger
Innenhof, wo Gruppen aus elegant gekleideten Studenten und Studentinnen, mit
Büchern unterm Arm, auf dem Weg zu den Hörsälen sind. Das Schild vor der
Universität ist in drei Sprachen geschrieben worden - auf Englisch, in Dari,
der am gebräuchlichsten Sprache in Afghanistan und auf Paschtu, der Sprache der
Paschtunen.
Lehrerin in Afghanistan |
Shafaq lehrt die
Geschichte Afghanistans während der Epochen der Aufklärung und der
industriellen Revolution. Dabei verweist er auf John Locke und Abraham Lincoln,
auf Freiheit und Demokratie. Sein Gehalt beläuft sich auf 2000 Afghanis im
Monat, ungefähr 30 Euro.
Nach so vielen
Hoffnungen und so vielen Versprechungen fühlen sich die Hazara von der Regierung
übergangen - die von einem paschtunischen Präsidenten geführt wird. Ganz
Hazarajat stellt sich die Frage: Warum gab es nicht mehr Entwicklung in und
mehr Interesse an einem Gebiet, das sicher ist, wo die Bevölkerung die
Regierung unterstützt, wo es fast keine Korruption gibt, wo Frauen eine Rolle
in der Öffentlichkeit spielen, wo kein Mohn wuchert? Es kommt nicht selten vor,
dass Bauern mit dem Gedanken spielen, Mohn anzubauen, um es auf dem Heroinmarkt
zu verkaufen, vielleicht sogar ein bisschen Unruhe zu stiften, um die
Aufmerksamkeit der Regierung auf sich zu ziehen.
Der Aufbau ist
sicherlich nicht leicht in diesem Terrain, aber Hazarajat könnte als Vorbild
dienen, dafür, was alles möglich ist, wenn eine Region in den Aufbau des Landes
investiert. Dennoch ist so viel Zeit vergangen. Schon das Wiederaufleben der
Taliban, die kürzlich Hazara Anführer in einigen Bezirken, die an ihre
Hochburgen angrenzen, angegriffen hatten, rühren schwierige Erinnerungen auf.
„Jedesmal wenn wir Neuigkeiten über die Taliban im Radio hören, werden unsere
Knochen zu Wasser.“ sagt Mohsin Moisafid in Kata Khona.
Vielleicht kommt eine
neue Generation von afghanischen Anführern auf, welche die Menschen aus der
Mentalität des Krieges und der Warlords und dem Dschihad führen. Vieles hängt
davon ab, ob es den Taliban gelingt zu erstarken, ob die internationale
Gemeinschaft das Interesse verliert, ob die Spannungen zwischen den U.S.A. und
dem schiitischen Iran, die Lage der Hazara nachteilig beeinflussen wird. Was
auch immer passiert, deutlich mehr als das Schicksal der Hazara steht auf dem
Spiel. Oder wie Dan Terry, ein amerikanischer Aufbauhelfer, der 30 Jahre lang
in Afghanistan gelebt hat, es formulieren würde: Was den Hazara widerfährt, ist
„nicht nur die Geschichte dieser Menschen. Es ist die Geschichte des ganzen
Landes. Es ist die Geschichte von uns allen.“
Original Abrufbar unter: http://ngm.nationalgeographic.com/2008/02/afghanistan-hazara/phil-zabriskie-text